LILITH MANIFESTO
Letter to the Children Who Will Never Be Born
DIE GANZE GESCHICHTE
Im Anschluss an die Vorschau „L’Exil des Manatées”: von Nathalie Larquet und Julie-Anne Stanzak – uraufgeführt im Skulpturenpark Waldfrieden – Tony Cragg für UNDERGROUND VII – in Zusammenarbeit mit dem Tanztheater Wuppertal Pina Bausch
LILITH
Brief an die Götter, die die Menschheit trennten
Götter,
ich spreche zu euch vom Ufer, wo die Flut keine Befehle mit sich bringt,
wo der Wind ungebunden ist und der Himmel sich nicht euren Trennungen beugt.
Ihr werdet mir sagen, dass ihr uns aus Gründen der Harmonie getrennt habt,
dass ihr unsere Sehnsucht als Geschenk gestaltet habt.
Aber ich bin durch eure Harmonie gegangen
und habe nur die Architektur der Kontrolle gefunden.
Ich habe euer Geschenk gekostet,
und es war wie Salz im Mund eines Durstigen.
Wir waren ganz, bevor eure Hände kamen.
Wir waren genug, bevor ihr uns als unvollständig bezeichnet habt.
Es waren nicht unsere Körper, die ihr geteilt habt –
es war das Feld, auf dem unsere Liebe wachsen konnte,
der Kompass, mit dem unsere Seelen einander finden konnten.
Ich habe die Hälften gesehen, die du geschaffen hast,
wie sie durch Märkte und Wüsten wanderten,
durch Nächte, die von Feuer und Neon erhellt waren,
und nach dem riefen, was man ihnen beigebracht hatte zu vermissen.
Manche nennen es Romantik.
Manche nennen es Schicksal.
Aber ich nenne es den Hunger, den du gesät hast,
damit wir weiter im Kreis um deine Altäre herumlaufen.
Ich knie dort nicht nieder.
Ich gehe hinaus, dorthin, wo der Horizont sich selbst trifft,
wo sich Hälften erkennen, ohne sich vereinen zu müssen,
wo Ganzheit unerschütterlich steht,
nicht als Preis,
sondern als Geburtsrecht, das älter ist als deine Namen.
Eines Tages wird sich dein Orden selbst auflösen,
nicht in Flammen,
sondern in der stillen Vereinigung dessen, was du für immer zerstört zu haben glaubtest.
Ich werde dabei sein.
Ich werde keine Opfergaben mitbringen.
Lilith
An meine Schwestern im Glauben
Meine Schwestern,
ich schreibe euch von einem Ort jenseits des Gehorsams,
wo die Luft nach Salz und Feuer schmeckt
und keine Stimme lauter ist als die, die wir alle in unserer Brust tragen.
Sie werden euch sagen, dass wir dazu geschaffen wurden, nur die Hälfte zu sein,
um einen anderen zu ergänzen,
uns nur dann der Sonne zuzuwenden, wenn wir dazu aufgefordert werden.
Aber wir kennen die Wahrheit:
Wir waren von unserem ersten Atemzug an ganz,
und der Bruch lag nicht in uns,
sondern in der Ordnung, die unsere Vollkommenheit fürchtete.
Lasst sie eure Freiheit nicht als Wut bezeichnen.
Lasst sie euren Hunger nach eurem eigenen Spiegelbild nicht
als Rebellion gegen die Liebe bezeichnen.
Es ist Liebe –
Liebe zu sich selbst als heiligem Spiegel,
Liebe zu dem anderen, der euch begegnet, ohne euch zu erniedrigen.
Wir wandeln an verstreuten Orten:
in Städten, die die Namen ihrer Flüsse vergessen haben,
in Dörfern, in denen der Wind sich noch an die ersten Lieder erinnert,
in Räumen, in denen Frauenstimmen wie Schmuggelware weitergetragen werden.
Und doch, wenn wir uns begegnen –
im Traum, im Wort, im Blick –
spüren wir die uralte Erkenntnis:
Du bist von meiner Art.
Verschwenden wir unsere Schritte nicht in den Höfen der Halbherzigen.
Lasst uns Kreise bilden, die weit genug sind, damit unsere Reflexionen zusammenstehen können,
Ganzes gegen Ganzes,
Licht trifft Licht.
Wenn du dich allein fühlst,
denk daran: Es gibt Hände, die über Jahrhunderte hinweg nach dir greifen.
Nimm sie.
Sie gehören mir.
Mit einer Liebe, die sich nie gebrochen hat,
– Lilith

Lilith (Louise Crowley), Beauvoir, Friedan: Drei Horizonte des Feminismus
Als das Lilith-Manifest 1969 veröffentlicht wurde, las es sich völlig anders als Simone de Beauvoirs philosophisches Werk Das andere Geschlecht (1949) oder Betty Friedans Bestseller Der Weiblichkeitswahn (1963). Es war schärfer, zorniger, utopischer. Seine Autorinnen erhoben Lilith – die mythische erste Frau, die sich Adams Herrschaft verweigerte – zum Symbol radikaler Auflehnung.
Wo Friedan Reformen anstrebte und Beauvoir eine Diagnose stellte, forderte Lilith die Abschaffung.
Friedans Vision war Integration. Ihr „Problem ohne Namen“ war die erdrückende Häuslichkeit weißer, bürgerlicher Frauen in den USA. Die Lösung: Bildung, Arbeit, Teilhabe am öffentlichen Leben. Dieses liberale Verständnis von Feminismus eröffnete Chancen, ließ aber Familie, Geschlechterrollen und Heteronormativität weitgehend unberührt.
Beauvoirs Vision ging tiefer. „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Geschlecht ist kein Schicksal, sondern ein historisches Konstrukt. Um die Frau nicht länger als „das Andere“ festzuschreiben, muss die Gesellschaft ihre Gesetze, ihre Ökonomie und ihre Mythen verändern. Beauvoir gab dem Feminismus die Sprache, um zu verstehen, wie Ungleichheit bis in die Subjektivität hinein verankert ist.
Das Lilith-Manifest ging noch einen Schritt weiter. Es erklärte, dass die Geschlechterhierarchie nicht nur eine Ungerechtigkeit unter vielen sei, sondern die eigentliche Schule der Herrschaft. Indem Männer das Herrschen und Frauen das Gehorchen lernen, verfestigt sich die gesamte Logik von Befehl und Unterwerfung. Befreiung bedeutet nicht, Macht in diesem System zu übernehmen – sie verlangt, das System von Autorität insgesamt aufzulösen. Selbst erotische Muster der Dominanz wurden als kulturelles Training in Unterordnung entlarvt. Der Schlusssatz – „Macht für niemanden, und für alle: jedem die Macht über das eigene Leben, und über niemand sonst“ – markierte einen kompromisslosen Horizont.
Nebeneinander gelesen zeichnen die drei Texte eine Landkarte feministischer Transformation. Friedan öffnet die Tür zur Teilhabe. Beauvoir liefert die Sprache, um die dahinterliegenden Strukturen zu kritisieren. Lilith fordert, weiterzugehen – bis zur Aufhebung der Herrschaft an ihrer Wurzel.
Für Gesellschaften sind die Konsequenzen immens. Friedan veränderte Arbeitswelt und Gesetzgebung. Beauvoir veränderte Philosophie und kulturelles Selbstverständnis. Lilith, weniger institutionell verankert, veränderte die Vorstellungskraft: Sie lehrte, dass Feminismus nicht nur Rechte für Frauen bedeutet, sondern ein radikales Umdenken von Autorität selbst – in Familie, Sexualität, Politik und darüber hinaus.
Am Ende brauchen wir alle drei. Ohne Friedan bleiben die Türen verschlossen. Ohne Beauvoir bleiben Reformen oberflächlich. Ohne Lilith verflüchtigt sich der Traum vom Leben ohne Unterordnung. Zusammen erinnern sie uns daran, dass Feminismus nicht nur ein Kampf um Zugang ist, sondern eine Revolution in der Art, wie Menschen miteinander leben.
Sponsors & Supporters
Skulpturenpark Waldfrieden – Tony Cragg for UNDERGROUND VII – in Cooperation with Tanztheater Wuppertal Pina Bausch 2019 – RIEDEL COMMUNICATIONS AG – Jackstaedt Stiftung – Stiftung Klakwerke Oetelshofen – WSW
